Kassel, Mai 2023
Wir lebten in einer fantastischen Zeit, in der wir durch die Digitalisierung unseres Lebens annähernd Alles zu Jeder Zeit an Jedem Ort erhalten konnten, was wir uns wünschten. Unser Körper und die Natur um uns herum, also unser „reales“ Leben, verliefen hingegen analog.
Besonders auffällig wurde dies in unserer digitalen Medienwelt, bei der Musik und Videodaten digitalisiert, optimiert und komprimiert wurden um diese danach streamen zu können.
Ich wuchs noch in einer analogen Welt mit über die Luft gesendeten Funksignalen, Kassetten und Schallplatten auf, folgte vor etwa 25 Jahren jedoch auch dem damaligen Trend, verkaufte meine analoge Stereoanlage und stieg komplett auf digitale Systeme um. Und wie den meisten Menschen waren mir die Unterschiede nach kürzester Zeit kaum mehr bewußt, da vor allem die Klangqualität der neuen Systeme und die Verfügbarkeit der Medien bestechend war. Ich war zufrieden.
Dieser Zustand änderte sich erst zur Konfirmation meines ersten Sohnes. Dieser war Fan von Michael Jackson und da ich noch eine alte originale Vinyl-Schallplatte vom Album Thriller hatte und ihm diese schenkte, musste natürlich auch ein Schallplattenspieler angeschafft werden. Hierbei handelte es sich um ein einfaches Gerät mit eingebauten Lautsprechern, fernab der ursprünglichen Qualitätsansprüche. Und trotzdem war der Klang dieses alten Mediums so ein Erlebnis, dass ich in der Folge beschloss mir wieder einen Schallplattenspieler nebst Stereoanlage zu kaufen und langsam aus dem digitalen Schlaraffenland auszusteigen.
Durch diesen Umstieg ergaben sich bei mir etliche Beobachtungen. Neben einem verbessertem Hörerlebnis stellte ich als Erstes insbesondere fest, dass mich der analoge Klang entspannte – ich wurde ruhiger.
Wie ich schon oben beschrieb, waren wir Menschen analoge Wesen. Auditive und visuelle Reize, die wir mit Ohren und Augen aufnahmen, waren wellenförmig – gleichförmige Sinuswellen, die sich in Amplitude und Frequenz unterschieden.
Bei der Digitalisierung dieser Wellen, der Quantisierung, wurden die Signale in vorgegebenen Intervallen gemessen und in diskrete Werte umgewandelt – aus einer gleichförmigen Kurve wurden somit „Treppen“, die je nach Qualität der Umwandlung, größer oder kleiner und somit für unsere „trägen“ Sinnesorgane als weiterhin gleichförmig wahrgenommen wurden.
Um die Dateigrößen zu verringern, wurden weiterhin sämtliche Frequenzen die außerhalb unseres bewußten Wahrnehmungsspektrums lagen sowie „Hintergrundgeräusche“ (also „Störfrequenzen“) herausgefiltert – die Wiedergabequalität war also bestechend und ein Abrufen in Echtzeit über das Internet und die kabellose Datenübertragung auf mobile Endgeräte möglich. Toll!
Und trotzdem hörte ich lieber meine alten Vinyls und erfreute mich an deren Klang – selbst an alten Schallplatten, die 60-70 Jahre alt waren, konnte ich mich mich erfreuen und stellte auch bei diesen fest, dass es mir ein angenehmeres, natürlicheres Klangerlebnis bescherten, als die neuen digitalen Medien.
Der Grund hierfür lag vermutlich neben den für meinen Körper „natürlicheren“ Schallwellen auch im Verfahren des Abspielens dieser Medien. Anders als bei digitalen Medien, die einfach durch einen Klick auf dem Smartphone verfügbar und endlos abspielbereit waren, musste ich die Stereoanlage anstellen, die Schallplatte aus der Hülle nehmen, sie auf den Schallplattenspieler auflegen, deren Oberfläche und die Nadel des Tonabnehmers reinigen, diesen dann vorsichtig anheben und ihn über den Rand der Schallplatte legen um ihn dann über einen kleinen Hebel auf die Schallplatte abzusenken. Erst dann kam ich in den Genuss meines Klangerlebnisses.
Und nach etwa 20-25 Minuten Spieldauer einer Seite musste der Tonabnehmer manuell zurück geführt, die Schallplatte umgedreht, die neue Seite wieder gereinigt, das System gestartet und der Tonabnehmer erneut aufgelegt werden. Alles manuell.
Dies führte neben einer Verlangsamung in unserer ansonsten so beschleunigten Welt auch zu einem gesteigertem Bewusstsein beim Medienkonsum. Ich hörte bewusst Musik – von der Auswahl der Schallplatte, dem manuellen Handling bis dahin, dass eine Schallplattenseite komplett durchgehört wurde ohne zwischendurch mal eben schnell zwischen Kanälen zu wechseln. Und es war keine Hintergrundberieselung, die einen Teil meines eh schon oftmals reizüberfluteten Gehirns, beschäftigte.
Analoge Medien forderten Konzentration und die bewusste Entscheidung sich darauf einzulassen. Und wenn man sich einmal darauf einließ, fand man noch weitere analoge Technologien, die dazu führten, dass unser Leben langsamer und bewusster an uns vorbei glitt: zum Beispiel ein Buch in Papierform, das Schreiben eines Briefes mit einem Kolben-Füllfederhalter, ein Telefon mit Wählscheibe, eine manuell aufzuziehende Uhr, ein Straßenatlas im Auto oder auch ein Männerpissoir mit schlecht funktionierender Druckknopfspülung.
Zum Ausgleich dieser digital festgehaltenen Gedanken höre ich Marvin Gaye und muss nun die Schallplatte umdrehen – und analog entspannt wünsche ich eine Gute Nacht.