Grün kaputt

Kassel, Juli 2022

In meiner Jugend wuchs ich mit einer neuen Bewegung auf, die sich verstärkt um Natur- und Tierschutz sowie mehr Bürgerbeteiligung bemühte. Der Club of Rome hatte gerade seinen Bericht “Die Grenzen des Wachstums” veröffentlicht, welcher vor zu großem Ressourcenverbrauch in Kombination mit stetigem Bevölkerungswachstum warnte. Aus dieser Bewegung heraus wurden Die Grünen gegründet, die dann zur Jahrtausendwende auch erstmals Regierungsverantwortung im Bund mit übernahm.

Zwanzig Jahre später avancierten die Grünen erneut zum Hoffnungsträger für die Nation und waren wieder Teil einer durch die SPD geführten Bundesregierung. Zwischenzeitlich gab es in Deutschland sogar einen (wiedergewählten) Grünen Ministerpräsidenten, mehrere Grüne Bürgermeister und in Kassel einen Grünen Baudezernenten und seit den letzten Kommunalwahlen eine grüne Mehrheit im Stadtparlament.

Hatten sich allerdings die großen Reformhoffnungen auf Bundesebene schon in den vergangenen 30 Jahren nicht erfüllt, blieben sie vor allem in der lokalen Realpolitik des Alltags völlig unerfüllt. Weder wurde unsere Gesellschaft gerechter oder friedlicher, noch die Natur mehr geschützt. Der Klimawandel wurde nicht aufgehalten, die Steuergesetze wurden nicht reformiert, und die Bürgerrechte oder die Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen wurden nicht gestärkt.

Besonders auffällig waren hier in Kassel seit einigen Jahren die in ursprünglich bürgerlichen Wohngebieten mit Einfamilienhäusern zunehmend entstehenden „Stadtvillen“ – eine markentingtechnische Umschreibung von schlicht überteuerten Mehrfamilienhäusern. Am besten wurden diese dann noch auf „parkähnlichen“ Grundstücken errichtet, die zwar VOR der Baumaßnahme oftmals durch einen dichten, alteingewachsenen Baumbestand gekennzeichnet waren, danach allerdings eher dem Vorgrün auf einem Golfplatz ähnelten.

So geplant in einem kleinem Anwohnerweg mit aktuell 14 Wohneinheiten. Hier sollen auf einem alten, wunderschön eingewachsenen Grundstück vier Stadtvillen mit insgesamt 20 Wohneinheiten entstehen. Als die alten Dame ihr Grundstück ursprünglich teilen und die eine Hälfte einer jungen Familie verkaufen wollte (um genau den aktuellen Vorgang zu verhindern), die hier ein Einfamilienhaus im Grünen zu errichten plante, wurde ihr dieses von der Stadt mit der Aussage verweigert, es handele sich um kein Baugrundstück und es gäbe keine Erschließung.

Nach dem Tod der alten Dame wurde das Grundstück von der Erbengemeinschaft dann meistbietend an einen Projektentwickler verkauft, für den diese Beschränkungen nun offensichtlich nicht mehr zählten. Auf Nachfrage bei den Grünen Bürgervertretern kam die Aussage, dass Kassel Wohnraum in allen Preissegmenten bräuchte und es hier ja schon eine Erschließung gäbe, dies also besser sei, als auf der grünen Wiese zu bauen.

Die hier geplanten Quadratmeterpreise lagen bei 5.000 Euro – VOR dem Ukraine-Krieg und der nun auftretenden Verknappung von Baumaterial und steigenden Zinsen. Und natürlich war das Grundstück überhaupt nicht erschlossen. Es gab keinen Kanal-, Wasser-, Gas- oder Stromanschluss für 20 Wohneinheiten. Auch die Zuwegung über einen im Schnitt 2,50m breiten Weg war ungeklärt – insbesondere für die Müllabfuhr, die mit größeren Fahrzeugen den schmalen Weg überhaupt nicht befahren konnte.

Der Hinweis der Anwohner, dass hier eine unverhältnismäßig höhere Verkehrsbelastung in dem schmalen Weg induziert würde, die auch die Kinder auf ihrem Schulweg gefährdete, wurde vom entsprechenden Dezernenten vom Straßenbauamt mit der Aussage abgetan, „man sei hier verkehrlich nicht belastet – das sei man nur an den Haupteinfallstraßen.“ Und wenn ich die dortige Belastung mit den Großräumen Los Angeles oder Tokyo verglich, floß der Verkehr auf den Kasseler Einfallstraßen zu Stoßzeiten wie auf einer Deutschen Autobahn.

Gleiches galt übrigens für das Fehlen von Parkflächen – im Weg selbst, auf dem neu erschlossenen Grundstück, aber auch in den angrenzenden Straßen.

Anyhow: dieses Projekt wurde von grünen Politikern nachhaltig unterstützt. Auch das Fällen von etwa 40 alten Bäumen (Buchen, Eichen, Fichten, Birke, Weide, Linde, Eibe, Apfelbäume, Birnen, Pflaumen, Ebereschen) und Sträuchern (Hainbuchen, Haselnuss, Rhododendren) war das Ergebnis grüner Realpolitik. Gleiches galt für das Entfernen eines Teichs und Feuchtbiotops mit Schilf, Fröschen, Libellen und Ringelnattern. Es handelte sich hier um einen in der heutigen Zeit so wichtigen Lebensraum für Diversität in der Natur mit Insekten, Kleintieren, Fledermäusen, roten Eichhörnchen und unzähligen Vögeln (z.B. Rotkehlchen, Sumpfmeisen, Schwanzmeisen, Blaumeisen, Girlitz, Drosseln, Kleiber, Grünfink, Amsel, Grün- und Buntspecht, Kernbeisser, Rotschwanz), die hier ihre Nistplätze hatten.

Durch die Grundstückserschließung musste auch der Weg neu erstellt werden – was nun infolge der eh notwendigen Kanalbauarbeiten ehrlicherweise keinen zusätzlichen Aufwand darstellte, im Vergleich zum Status Quo jedoch ebenfalls unnötig war. Die Frage, wie in dieser Zeit die Zuwegung zu den bisherigen Häusern gewährleistet werden, wie Kinder sicher in die Schule kommen, wie die Straßenreiniger den Müll entsorgen, die Brief- und Paketboten die Häuser erreichen, oder die Anwohner ihre Einkäufe nach Hause bringen sollten, blieb unbeantwortet. Ebenso die Frage, wie Patienten, die teilweise gehbehindert waren, in die hier ansässige Osteopathie-Praxis oder Kunden zum KFZ-Sachverständigen gelangen sollten: keine Antwort. Für beide Familien gegebenenfalls eine existenzbedrohende Situation.

Dass zum Straßenneubau natürlich noch eine Straßenbeleuchtung gehörten, was in Folge dann zu mehr Lichtverschmutzung führen würde, fiel dann auch nicht mehr ins Gewicht. Genauso wenig, wie der unterlassene Dialog mit den betroffenen Anwohnern, deren „Bestandsschutz“ und die Bitte um Verhältnismäßigkeit und Angemessenheit im Vergleich zum Gewinnmaximierungsanspruch eines Einzelnen nicht zählten.

Aber ins Gewicht fiel, dass sich Die Grünen von ihren ursprünglichen Zielen von Basisdemokratie, Bürgerbeteiligung, Gleichberechtigung, Sozialer Marktwirtschaft im Einklang mit der Ökologie sowie dem Natur- und Tierschutz, verabschiedet hatten – dies dann allerdings konsequent nachhaltig!

Kleine Anekdote am Rande hierzu: gemäß einer neuen Verordnung durften in Kassel Gärten und Vorgärten nun nicht mehr großflächig mit Steinen bedeckt werden, da dies die Erwärmung förderte. Für die Zerstörung natürlicher Biotope um überteuerte Neubauprojekte zu realisieren, schien dies nicht zu gelten. Die physikalischen Regeln und die Gesetze der Entropie verloren auch hier vor dem Kapital ihre Wirksamkeit – analog dem Menschenverstand. Gute Nacht